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Tage- und Nachtbuch

Jetzt ist es mir auch passiert: Durch ein kompliziertes Routing an Verweisen und Klicks stoße ich bei Facebook auf jemanden aus meiner letzten Schulklasse, an den ich seit x Jahren nicht mehr gedacht habe: A. P.

Dabei war er einer von denen, die ich mochte.

Es gab die, mit denen man fast nichts gemein hatte und die einen auch nie weiter interessierten (nur manchmal nervten). Es gab die, mit denen man reden konnte und mit denen man hin und wieder mal zusammenstand. Und es gab die, die man auch nach der Schule traf – und darunter den einen oder anderen sogar später noch regelmäßig. Und es gab die, die immer irgendwo dazwischen waren, eher zurückhaltend, einem von ferne ähnlich, am Rand, nach keiner Seite besonders ausschlagend und in ihrer Bereitschaft, das Leben vorläufig nicht zu sehr an einen herankommen zu lassen, einem sogar ein bisschen verwandt.

Und jetzt sehe ich, er ist – nach welchen Stationen dazwischen auch immer – ein Fetischfotograf geworden.

(Zeigt seine Website für meine Art Blick auch eher konventionelles Zeug. Nicht, weil ich mich mit seinen Vorlieben besonders auskenne, aber ein bisschen mit Fotografie: Das ist [künstlerisch] allzu brav. Es lässt mich kurz an eine Musikerin denken, die sich in unserer New Wave-Zeit wie so viele als Minimalistin in Schwarz versuchte und sich vor ein paar Jahren plötzlich mit bunten Tätowierungen und Metall im Gesicht und reichlich verunstaltenden Ohrgehängen zeigte – als nur umso deutlicher von den falschen Begleiteffekten der Zeit Abgehängte.)

Aber nicht diese, seine Foto-Sache berührt mich seltsam, sondern A. P.s eigene gewonnene Sichtbarkeit: Sein Hervortreten, seine gewonnene Kontur, seine Glatze, seine Maskulinität. (Er spricht im Zusammenhang mit den Fotos von einer Leidenschaft: Ist es für ihn nach einem mutmaßlich angepassten Arbeitsleben also auch eine Art coming-out?)

Dabei habe auch ich mich schließlich verwandelt und bin ein anderer geworden. Das unmittelbar innere emotionale Anschließenkönnen an ihn als seinerzeitige Person ist es, das mir ein Fremdheitsgefühl macht – nachdem ich doch einmal so dringend von all denen weggewollt hatte, die nicht genügten und mit denen doch so lange und zwangsweise auszukommen war.

Und könnte er ein Zeuge sein für den ihm und mir Unbekannten, der ich damals war? Das Gefühl ist, als wäre in/mit ihm etwas über mich zu wissen, das anderswie nie mehr zu erfahren, nicht mehr zu erreichen wäre. Dabei habe ich schon lange nicht mehr den Gedanken, es fehlte mir etwas/jemand aus der Zeit, der mir etwas über mich hätte verraten oder beglaubigen sollen: Endlich ist es lang genug her, und da soll es auch vergessen bleiben.

(Einer ist ein regional bekannter Zauberkünstler geworden. Ein anderer ein theoretischer Physiker. Und einer hat den Nachnamen seiner Frau angenommen. Dagegen sind die, von denen ich dachte, das man vielleicht einmal von ihnen hören würde, spurlos verschwunden. Und der einzige wirkliche, langjährige Freund aus jener Schulklasse ist vor Jahren gestorben, und weil er wegen einem seinerseits gesuchten Bruch in seinem Leben auswärts lebte, erfuhr ich auch erst über Umwege und mit ziemlicher Verspätung davon. Heute steht all das für ein anderes Leben.)

Dabei ist er, A. P., als ‚Jener‘, als Aspekt von mir, doch auch nie fortgewesen? Bliebe er nicht auch nach einer nichts an Gewinn bringenden Befragung als Inbild und Double des früheren A. P. verkörpert? Und kann ich ihm als aus seiner Erinnerung mit nicht mehr als zwei, drei dürftigen Adjektiven belegbare Person heute wie damals ein anderer denn ein Ausgedachter sein, jemand nur zu Verkennendes? Und so weiter. Ein Spiegel- und ein Schattenkabinett. Besser, es gar nicht erst betreten. (Und hoffentlich erinnert mich jetzt nicht Facebook, diese vampyristisch noch alles Datenleben doppelnde und verdünnende Leerlaufmaschine, dauernd daran.)

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Das die halbe Nacht gegen das Fenster anstürmende Wetter wuchtet sich endlich ins Zimmer … aber nicht, indem es das Glas eindrückt (wie die Angst die ganze Zeit vorhergesehen und befürchtet hat), sondern indem es den Fenstergriff benutzt – den es hier also auch außen gibt. Und indem es diesen Griff betätigt, wird sie, diese Wesenheit des Wetters, irgendwie auch ‚personal‘.

Das habe ich seit der Kindheit nicht mehr empfunden, und das ist so bemerkenswert, dass es die Gewärtigkeit und das Bemerken selbst sensationell macht – und damit auch im Traum, als diesen Horizont, bewusst.

Denn jetzt ist es ein abstrahiertes Wetter (zum Teil wie aus einem Kinderbuch: schräge Striche für Regen, ein Gekringel für Wolken und die Backen eines den himmlischen Wind pustendes Gesicht), wie auch ein animiertes: ein Hauchleib (auf der Haut), ein Zeus’scher Regen (in der Wunsch-Imagination). Ein Wettergeschehen, der mit den subtilen Kräften seiner Wandlungsfähigkeit spielt, und obwohl immer noch in einem Zwischenbefinden außerhalb, auf der Schwelle, spüre ich all das doch auch sehr nah.

Und dann ist das Bett, in dem ich liege, tatsächlich mein altes Kinderbett. Eines hinter der nackt ragenden Außenwand eines Gebäudes ohne Nachbarhäuser, in dem ich tatsächlich oft Frühjahrs- und Herbststürme, Hundstage und Ungewitter überstand, aus dem heraus ich mich oft über mysteriöse Pfade eines magischen Denkens und Fühlens auf Abenteuer begeben hatte. Diese Transponierung ist noch als Reminiszenz so gefühlsbeladen, dass es mich weckt.

Das reale Wetter ist eher Nebel und Feuchte, Temperaturen knapp über Null. Ich fühle mich frisch wie tatsächlich von diversen animistischen, mir freundlich gesonnen Kräften berührt. So war die Stürmerei also vor allem in mir, wüsste ich auch weder Anlass noch einen Grund dafür. Noch einmal bin ich gerettet und unbedrängt.

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Der Sturm kam aus der vorhergesagten Richtung: Zum ersten Mal konnte ich mit meinem Weithinblick aus dem Fenster zur Gartenseite live zusehen, wie sich über dem Rhein eine Superzelle aufbaute – meteorologisch womöglich nicht korrekt, sah sie zumindest nach ihrer Form so aus wie sonst nur in den Filmberichten über dem amerikanischen Mittelwesten. Zwei Dinge geschahen: Sie wurde konturierter und wurde zusehends dunkler. Zwar waren noch die unvermeidlichen Feiertagsgeräusche zu hören, und, davon getäuscht, ein paar Amseln, aber nach und nach wurde die Welt still. Auch ich hatte längst Respekt.

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Weil ich unter dem Dach wohne und einer alten Faszination für solche Ausnahmezustände nachgab – und weil die Raschheit der Schwärzung dort dramatischer war -, schaute ich dann immer öfter aus dem Fenster zur Straße, der dunkleren Seite. (Im Hin- und Herlaufen war es, als befände ich mich in der Dämmerungszone einer Datumslinie: Hier grauender Tag, dort tiefe Nacht.) Bis man mit den einsetzenden Wasserfluten die Häuser gegenüber nicht mehr ausmachen konnte und es anfing, abgebrochene Äste bis zu mir hoch zu wirbeln.

Noch nie habe ich den Baum vor dem Haus derart gezaust und gequetscht und verbogen wie durch diese Windböen gesehen. Und auch bei geschlossenem Fenster war es vom Geräusch, von seiner Lautstärke her, dann zwei Mal, als ob ein niedrig fliegender Jet sich hindurch die Straße zu zwängen versuchte und vor Schmerz oder Empörung dabei brüllte und alle mater materia in Vibrationen versetzt.

Jedes Jahr gibt es ein paar kräftige Sommergewitter (wenn nicht, würden sie einem ja fehlen), aber in der Intensität wie gestern müssen sie doch Ausnahmen bleiben – schon um überhaupt noch eine Regelhaftigkeit zu bestätigen (weil sonst eine umfassendere Dialektik außer Kraft geriete; auch die erfahrene Katastrophe verschiebt die Gewichte vielleicht immer nur neu). Erinnern kann ich mich jedenfalls nicht, so etwas an Sturmdichte, solch eine umfassende Verdunklung der Elemente schon mal erlebt zu haben. (Kyrill, 2007, dauerte länger und war verheerender – aber anders.)

Außer einmal in Malaysia. Das in solchen Lagen gern gebrauchte Bild von der Sintflut war mir dort einmal nicht als übertrieben vorgekommen – es war biblisch gewesen als ein bestimmter Grad, ein von Gott erzeugtes Extrem in der Vorstellung, und das Bild der unten vor dem Hotelwolkenkratzer, in winzigen Ausrissen in dem Wetterinferno sich mühen Müssenden, der Beladenen, steht mir bis heute vor Augen. Ich vermute, der allgemeinere Unglaube steht gerade in Verbindung mit solchen Beweislagen (oder in dem Zusammenhang vielleicht besser: der Zeugenschaft): dass es solche Unglücke unerfahrenen Ausmaßes tatsächlich gibt.

Weil ein, zwei Mal das Wohnungslicht flackerte, zusätzlich zu dem unaufhörlichen, durch meine Velux-Fenster gegenwärtig bleibenden Geflacker am Himmel, wurde es plötzlich verwirrend – Furcht auch noch vor dem Hirnflackern. Vielleicht habe ich in meinem Leben nicht oft genug wirkliche Angst? Jedenfalls wartete ich das Toben dann lieber in der Dunkelheit ab.

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Nach dem Sturm ist die Welt neu.

In der Luft gibt es diese Elektrizität, die sich mit den anderen Frischeffekten verbindet: Die gesamte lokale Atmosphäre einmal mächtig durchgepustet und geklärt, hat sie Durchsichtigkeit, unversehens einen Glanz.

Um die Frische einzufangen und sie in die Zimmer und Hausflure zu lassen, werden überall Fenster und Türen aufgerissen, sogar das Geschirrgeklapper von unterbrochenen Mahlzeiten kommt zurück auf die Balkone. Herr M. tastet sie mit der Hand ab, die erst letzte Woche zum Unmut der anderen mit viel Lärm angebrachten Holzläden. So schafft für Menschen auch das Läppische immer wieder Zuversicht.

Weil es mit dem aufgehobenen Einbruchs von Nächtlichkeit nun so spät noch nicht ist, kommen die Leute (mit ihrem eh verpassten Fernsehabend) auf die Straße, dürfen auch die Kinder noch mal raus, um die überstandenen Bänglichkeiten und Beklemmungen auszuagieren, während die Alten Unterhaltungen beginnen, um einander ihre Empfindungen zu berichten. Mehrmals kann ich es vernehmen, erleichtert gesagt: Und ich hatte gedacht … Ja, ich auch. Die Welt ist zu Ende. Nein, ist wegen dir und mir ist sie es nicht. All die in meinen Augen meist plumpen Menschen mit ihren Kötern und Kleinwagen und ihrer Kurze-Hosen-Bräsigkeit sind also unabweisbar auch Nachbarn.

Das Beste, wie immer, sind die Gerüche. Im schnell hergestellten Durchzug erfüllen sofort Baumdüfte die Wohnung, etwas von Harzen und Lockstoffen, Bitterzutaten von zerstoßenen Blättern und Rinden, fein gemahlenen Blüten und frisch gebrochenen Zweigen, aufgestöberte Ingredienzien aus sämtlichen bisher ungelüfteten Etagen und Lagen der Chlorophyllproduzenten herum die Häuser, jetzt aufgewirbelt und herangeholt und verteilt und mit der elektrischen Reibung in eine neue pheromonische Entzündlichkeit gebracht.

(Und wie jedes Mal ergibt sich damit die Ahnung, die Witterung, meines kreatürlichen Zurückgebliebenseins, nämlich ausgerechnet diese Reichhaltigkeit an Anima [Ceronetti], an sensorischer Intelligiblität nicht genügend für mich fruchtbar machen zu können: Nicht in der Lage zu sein, sie zu lesen. Oder das Sublime sozusagen der Einzeltöne wie beim Hören einer Symphonie zu unterscheiden. – Man redet sich seine Talente ja oft schön, aber ausgerechnet der niederste der Sinne war mir immer schon wichtig.)

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Mit Ästen in den Oberleitungen kann eine Straßenbahn nicht weiter, und deren Licht erhellt mit dem Einbruch der wirklichen, nun ein bisschen ungläubigen Nacht jetzt die Kreuzung.

Obwohl die Ampeln funktionieren, halten sich immer weniger Leute daran. (Am nächsten Tag, heute, ist die gesamte Kreuzung gesperrt, und die verbliebene Fahrspur wird verstellt von der Umständlichkeit derjenigen, die mit der Situation nicht zurecht kommen, sowie von der wie immer in ihrer inferioren Funktion quasi hoheitlichen Müllabfuhr. Ein Trupp Jugendlicher erkennt die Möglichkeiten und spaziert in dem abgesperrten Teil in der Mitte der Straße. Das vielleicht überhaupt Bemerkenswerte: Nirgends Polizei, keinerlei regelnde Instanzen.)

Die ganze Nacht über waren Sirenen zu hören. Noch gegen drei Uhr früh standen die Üblichen an der Ecke zusammen, da, wo sie immer stehen, weil es hier mit der Schließung der Kioske abends keine Treffpunkte mehr gibt. Sie sahen den Absperrarbeiten zu und genossen den Ausnahmezustand da, wo sonst nie etwas passiert. Vielleicht schwante ihnen auch einmal, wie sie selber der Aufstand sein könnten.

Weil ich mir die Fotogelegenheiten nicht entgehen lassen wollte – und in den rotierenden Warnlichtern mit meinen Blitzlein bestens gedeckt war – gelangen mir ein paar gute Aufnahmen. Aber die anderen, mit ihren blinkenden, Blickwinkel der entronnenen Katastrophe peilenden Telefonen, fotographierten ja auch.

Einmal sah ich eine junge Frau im Rennen auf die Wand vor sich den Schatten eines grotesken Tiers werfen. Einmal war, aus einem für mich nicht einsehbaren Bereich neben dem Haus, ein durchdringend gerufener Name zu hören. Doch die Tendenz zum Ausgleich in thermodynamischen Systemen, die bald wieder erwartete Normalität, hielt die Dämonen in Schach.

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Nachtrag: 30.000 Blitzschläge pro Stunde. Sechs Tote, schwerstes Unwetter seit Jahren, der Innenstadtverkehr lahm gelegt usw. Ich kann den nicht einsehbaren Teil der Kreuzung auf Zeitungsfotos sehen.

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Seit dem Wochenende Überlegungen, wie es möglich wäre, Walter Benjamins „Gerettete Nacht“ (in der Lesart Agambens) und Kittlers „Nacht der Substanz“ miteinander zu verbinden. Beider Ideen, dass es nur das Außermenschliche sein kann, aus dem sich noch Wahrheitsmomente entbergen lassen. (Und Gumbrecht weist hier zu recht auf die Potenziale da auch noch des ollen Heidegger hin.)

Unsystematisch wie meine Entdeckungs- und Herangehensweisen seit Längerem sind – die mich dann trotzdem auf solche Texte stoßen lassen -, merke ich, dass mir eben das Tiefenwissen fehlt (womöglich das griechische – denn auch bei Kittler gab es ja die letzte Kehre zurück zum Griechentum), um dann doch zu Zusammenführungen zu kommen – und sei es über umweghafte, unkonventionelle Kurzschlüsse.

Doch spüre ich eben auch die sehr lebendigen, die kleinen zwischendurch-erhellenden Erregungsernergien im Denken, die, einmal ausgelöst, für sich im Untergründigen arbeiten und eine positive Unruhe bereiten und noch Ergebnisse versprechen. Wie das Sitzen an einem Essay, von dem man nicht weiß, wohin man mit ihm geraten wird.

Oder – und das passiert mir tatsächlich gerade – mit einer Erzählung, die sich einem unter der Hand verändert und einen abwechselnd frustriert und wieder erregt und sich, trotz absehbar aufregender Möglichkeiten, auch etwas ohnmächtig fühlen lässt: mit der „anthropologischen Maschine“ (Agamben) der Erzählung nahe etwas „Unrettbarem“ (Benjamin) und darin zugleich doch auch in etwas Größerem, Aufregenderem aufgehoben.

Der Text wird dann eben mal wieder klüger gewesen sein als ich. Und die Wege dahin zu kommen verschlungener … nächtlicher.

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Nachtrag:
„Die Leidenschaft Mozarts für Zoten, für Erotisches, für schweinische und rohe Ausdrucksweise … Er hatte schwarze Reserven, ein eigenes Inferno unreiner Klänge, die er in der Kammer der Engel in paradiesische Vollkommenheit umwandelte – seine nigredo und albedo.“ (Ceronetti)

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Das Wiederlesen eines der ersten längeren Liebesbriefe – und wie es einen zwingend ergreift und kurz sogar wieder ganz unsinnig glücklich macht, in einem solchen Ton wirklich einmal gemeint und aufgehoben gewesen zu sein!

Und die Verwünschungen, die diese neue Liebe gegen den Vorgänger ausstieß – und die Ahnung, eines kommenden Tages selber mal Gegenstand solcher Beschimpfungen zu sein.

Und beides noch einmal neu auszuhalten, wenn es dann eintritt.

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