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Archiv für den Monat April 2014

Den halben Tag auf Streetview und Google-Earth – und man fühlt sich, trotz der abgerissenen Anschlüsse und Artefakte, trotz der verzerrten Perspektiven und ausgewischten Gesichter und Kennzeichen, als wäre man dort gewesen.

Lieu de mémoire, Schauplatz: Gedächtnis. Dem auch der abgerissene Ort noch als Rekonstruktion abgerissener Erinnerung dienen kann. Und man ist auch noch doppelt rückwärts gereist in der Zeit!

Und mit der Erkenntnis, dass das Areal eigener Abenteuer, das nur neu zu erfindende aber niemals wiederzufindende, längst ein von Architexturen, von gleichsam disseminierten Standardfiktionen des Urbanen überbautes ist, wird die sich einzufühlen suchende Recherche vollends surreal.

 

Etwa die dreckübersähte, mit Altölwechseln und gebrauchten Spritzen kontaminierte Wiese hinter dem alten Paketpostamt Erkrather Straße, in der ich, im Umherstreifen eines pan-summenden Mittags, einmal auf ein schlafendes Mädchen gestoßen war. Heute ein eroberter, ein wieder eingemeindeter Ort – ein umso verlorenerer. Ein weiterer jener das Wirkliche der Stadt mit seinen vorausentworfenen Prospekt-Leben, mit seinem Wohnen am Park-Lego überwuchernden – zu einem Menschenpark [Peter Sloterdijk], einem durch Investoren-Logik immer schon so und so geregelten.

(Dafür mit hauseigener Kita als Ausstattungsvorzug. – Tatsächlich operiert sie, diese Kommodifizierung des Sozialen [Robert Kaltenbrunner] heute zunehmend in Lebenswelten, lässt sie sich markenrechtlich schützen wie Monsanto unser gen-täglich‘ Brot, und verkauft sie uns schlüsselfertig zurück.)

Das Gefühl außerdem: Man ist dort, auf den auch in der Zeit, hindurch die Jahre des Überflugs heran- und weggezoomten Satellitenbildern, nicht einfach nur in einem schon geschichts- wie selbstvergessenen Raum, einem distopischen. Sondern bereits in einem herübergreifend fiktiven: Man reist herum in der Geschichte, die man einst intim begangen hat ebenso wie in einer wieder möglicherweisen, deren Intimität und Gefühlsgenauigkeit man nun für einen weiteren fiktiven Raum wiederherzustellen sucht, seinen Text. Einen ebenso sich und alles noch zu erfassen suchenden wie es doch loslassen müssenden.

Dass das einem so und so eingerichtete / vorgesehene Leben seit je immer auch ein virtuelles ist, hatte ich damals schon kapiert, als man anfing, sich über die abzeichnenden Phantasien auszulassen. (Und Sherry Turkle und J. L. Borges sind da bis heute fruchtbar.) Nur gehört spätestens seitdem – und zwar mehr als Kunst, und auch mehr als Mondflug, als die Wasserstoffbombe oder weitere alt-physikalische Wunder -, eben auch die Irrealisierung zum Realen dazu. Und zum Allumfassenden, zur Noosphäre unserer Welt der Bildschirme die dagegen eingetauschte, tendenzielle Bezugslosigkeit.

(Wie auf meinem neuen Samsung: Je phantastischer die Bilder, je überstrahlender ihre Wiedergabe, desto mehr fängt etwas in mir dorthin, in dieses Profan-Transzendente nicht Einzugemeindende an, sie bis in ihre ingenieuse Subpixeldichte als feindlich zu empfinden. Vielleicht weil Medienkonsum erst spät in meine Welt kam, und ich also kein Nativer, nirgendwo bin, ist etwas in mir da unrettbar altmodisch? Jedenfalls bleibt mein Wasserwaagenauge darauf ein schielendes: Es beharrt auf einer Scheide der Zeiten, nämlich einer vor und einer nachdem Bildschirme seine Welt wurden.)

 

Aber noch ein witziger Effekt. Weil ich selber irgendwann mal in jenen Jahren solch ein Streetview-Auto mit seinem Periskop auf der Straße gesehen hatte, wird es mir jetzt rückversichert: Genau! Quellenwert: objektivierte Fakten! Es muss eben im August oder September 2008 gewesen sein, als ich …

Und dann hilft es doch nicht, es bleibt Rekonstruktion.

Denn schon jetzt, da ich alles noch gut in meinem eigenen Gedächtnis zu haben glaube, kommt es mir ebenso vor, als wäre ich dort, in einem Ausgelagerten, ein Anderer gewesen. Denn zugleich kann ich, Gegenden wieder erkundend, die einmal zu meinen bevorzugten gehörten, Auschau halten nach mir selbst: Schon damals ein Außen suchend, bin ich aber dort wirklich einmal gegangen! Die Kamera muss mich erfasst haben, und in zumindest einem der eingefalteten Koordinatenräume muss auch ich jetzt als eine der Verwischungen dort vorkommen!

(Oder, wie ich vor Jahren mal zu jemandem gesagt habe, der in einem immer schnelleren Rückzoom bald auch schon Vergangenheit sein wird: Sag‘ ich, hör‘ mal, sag‘ ich, stell‘ Dich heut‘ Nachmittag doch mal in die Garten und winke – ich seh‘ Dich dann auf meinem Vorbeiflug auf Google-Earth!)

HAL, werde ich träumen?

Spreche ich heute mit jemandem darüber, fallen ihm die Verkehrungen schon kaum mehr auf. Ja ist es denn ein Wunder? Oder etwas in ihm merkt kurz auf wie über einen dieser Irrtümer des Kurzzeitgedächtnisses, wenn er in die Küche geht um eine Tasse zu holen, die auf seinem Schreibtisch schon steht. (Oder hatte ich das geträumt?)

Man fühlt sich wie in einer der Welten von Philip Dick, aber nicht mit einem Text als Schöpfer (darin den Protagonisten ihr Leben ja auch nicht gehört), sondern mit den ihm zuarbeitenden Apparaten. (Und überhaupt: can-an-algorithm-write-a-better-news-story-than-a-human-reporter?) Dabei kommen wir, wie man schon lange wissen kann, beider Verwirklichungen, denen von Dick wie denen von Google, tatsächlich jeden Tag ein Stück näher.

Wir sehen uns dann dort!

 

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Paketpostamtwiese.

 

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