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Texte im Entstehen

Eines nachts, auf einer Party, auf die mich M. genötigt hatte – sie verfolgte da mal wieder irgendwelche umweghaft-intrigantischen Absichten, so dass sie jemanden brauchte, der sie anderweitig stabilisierte – tauchte ein Verkleideter auf, ein Mann in Frauenkleidern.

Oder war er ein Umoperierter? Ich weiß es bis heute nicht. Ich weiß aber, wie ich, in diesen Dingen ewig unbedarft, das mal wieder erst mit Verspätung mitbekam – und wie mit diesem Nichtverstehen eine weitere Art Aufhebung an Wissen oder Gewissheiten verbunden war. (Dieses Moment bei mir, für mich selber auffällig, ist mir später immer wieder mal begegnet, nämlich in dem Wunsch, lieber noch ein wenig länger in der Verwirrung zu verbleiben statt sie gleich aufgelöst zu bekommen. Bis dann eh wieder jemand das Pappschild seiner Namen darauf klebt.)

Ein Transvestit? Jemand sprach es also aus, aber es musste nicht stimmen. Das, was daran üblicherweise für sich hätte verständlich sein sollen – beziehungsweise erkennbar: Schminke, Perücke, ein bestimmter Zug Weichheit oder eben dessen Fehlen im Gesicht -, schien seinerseits unentschieden. Und so sehe ich mich, obwohl es Eindruck hinterließ, desto mehr außerstande, etwas davon genauer zu beschreiben; die Details, die ich nennen könnte, entziehen sich gleich wieder, sie stimmten und stimmten doch nicht.

Noch jetzt ist mir, seit möglicherweise ähnlichen Begegnungen immer noch unerfahren, nicht klar, was das zu bedeuten hatte. Doch war / ist die Empfindung positiv. Angenehm. Aufgeschlossen. Oder wie immer man das besser fassen, das heißt: es neutral halten kann. Ob es nur an Äußerlichkeiten lag, in ihrem Charakter von Erscheinung, oder daran, wie das Unentschiedene in einer Person endlich einmal weiter reichte als nur zu seiner Überblendung in Konformität – ich weiß es nicht. Lass‘ ein bisschen Platz für das Unvorstellbare!

Obwohl ich weder ein Freund von Verkleidungen bin noch von dieser lippenbekennerischen, lauen Toleranz heutzutage gegenüber noch der exotischsten Minderheit: Das verwischt nur alle Konturen und entkräftet auch die Fremdheiten noch. Das ist nämlich das, was die, die ihre Abweichung gegen alle Widerstände zu leben verlangen, von den Normalen sich einhandeln: Dass sie an sich selbst verharmlosen, dass ihnen ihre Besonderheit genommen werden soll. Und dass die vorgebliche Duldung oft mit Demütigungen einhergeht. Auch die Gleichheit hat ihre Höllen.

Es wurde aber noch verwirrender, und zwar aus zwei Gründen. Erstens wurde er / sie uns vorgestellt, und ich währenddessen auf eine Weise angelächelt, die ich niemals zuvor erlebt hatte. So lächeln Frauen nicht. Aber Männer schon gar nicht. Und es scheint überhaupt, gewisse Arten an Lächeln können Männer von Frauen heute nicht mehr erwarten, schon gar nicht als ein Geschenk – haben damit auch die Frauen selber etwas verloren.

(Oder verlieren die Leute, die sich im Posing üben – heute im Voguing wie früher in Rock-Star-Gesten -, nur Ausdrucksweisen entsprechend dem Verlust eben vorgängiger Bilder? Das könnte persönlicheren, unmittelbareren Ausdruck begünstigen – abweichenderes: vor-/bild-loseres Verhalten. Aber wahrscheinlich ist das auch nur ein frommer Wunsch.)

Wobei dieses Lächeln – das zweifellos an mich gerichtete – gar kein meinendes Lächeln war. Es war nichts Absichtliches darin, überhaupt nichts Zielsprechendes. Schon gar nichts Anzügliches. Eigentlich – und es kostete mich etwas, den Gedanken später nach und nach zuzulassen -, eigentlich war es die Art Lächeln, die man sich womöglich in der Begegnung mit einem jeden Menschen von ihm wünschen würde. Frei und willkommen heißend und grundlegend bedingungslos. Weniger pathetisch kann ich es gerade nicht sagen.

Dabei ist auch das Unsinn: Es, jene Art Lächeln, stürzte einen unablässig nur von einer Verwirrung in die nächste. Es würde womöglich zu einem viel weiter reichenden gegenseitigen Verpassen der Menschen führen.

(Oder war das ein weiterer meiner eigenen Hormonräusche als Schwindel? In der Toilette immer die Kabine, nie das Urinoir? – Einmal, in einer Altstadtkneipe, hatte mich so ein – zweifellos männlicher – Schönling mit Lockenkopf derart bedrängt mit seinem Lächeln, dass ich nur hatte abhauen können. Kann sein, dass er mich hatte vergraulen, dass er nur meinen strategisch günstigen Platz damals dort hatte einnehmen wollen; dass er meine Schwäche gewittert, dass er mich als Opfer eines Experiments oder im Gegenteil, eines seiner mal wieder zu trainierenden Tricks ausgemacht hatte. Hatte doch auch das keinerlei verführerische Untertöne gehabt. Für mich hatte es in einer, sozusagen, sozialen Empörung geendet – wegen Lächelns! Heute, bei dem zunehmend erpresserischen, erst recht alle Differenz einlullenden Gebot zu dem Konsens gewordenen ‚Ich bin okay – Du bist okay‘ denke ich oft: Ich habe ein Recht auf meine erste Wut! Das ist zwar gleichfalls albern, aber mehr als die für windelweiche Überzeugungen aufgebrachten Worte ist oft schon das Lächeln – die Beschwichtigung, die Abwiegelung zur Vernunft – infam. Jedenfalls ist meine Vermutung: Ein Grund, warum manche Leute immer öfter einfach gleich zuschlagen, ist, wegen der Zumutung des Übermaßes an Falschheit auch der Toleranz um sie herum. Gewalt ist Mittel auch der Befreiung! Und in Fotze! Neger! Deutscher! … im stigmatisierten Wort liegt mit dem Bann auch die Abfuhr, die glimpflicher Erleichterung ist: Opfer.)

Und jetzt ein Lächeln, bitte!

Jetzt aber war es viel mehr als ein Lächeln – auch mehr als etwas bloß erotisch Uneindeutiges -, was mich kurz fassungslos machte.

Sicher hätte ich es nicht vor mir selber geleugnet, dass / wenn darin auch ein Moment an Verlockung gelegen hätte. Aber die Besonderheit der Regung war eine andere: Das Lächeln dieses Zwischenwesens – das, um auch das mit der Zurückhaltung / Neutralität zu sagen, um die ich mich hier bemühe, zu sonstigen Überhöhungen keinerlei Anlass gab: ein Punk wie ich und die anderen Agentur-, Hinterhof-Kleinkunst- und Möchtegern-Leute da auch -, das Lächeln hatte etwas Unmittelbares, ich bin versucht zu sagen: etwas Erlösendes. (Oder, von mir aus, etwas vom Vorschein des Erlösten.) Und es übertrug seine Washeit auf mich. Oder, um das mit Jakob Böhme in Bezug auf dessen vor-und-post-und-rest-paradiesische Sophia zu sagen (schon etwas genauer und die Genauigkeit in Bezug auf mein Empfinden doch verpassend, und auch ohne die Überhöhung darin): Meine geschlechtliche Existenz war in dem Moment keine zerrissene Existenz mehr, sie war per Kraft oder Qualität dieses eindeutigkeits-enthebenden Lächelns schon weiter. Nur verstand ich eben nicht, wie. Der Engel: Er war kein Beispiel.

Wahrscheinlich ist die wechselwarme Liebe so wenig verlässlich wie die anderen Arten von Liebe auch, und deshalb bin ich mir bis heute über jene Irritationen und mögliche Konsequenzen daraus nicht im Klaren. Allerdings hatte ich mich auch niemals vorher (und auch später nicht) für Transvestismus oder so was interessiert – das gehört für mich seit je in den Bereich von Karneval und Klamauk.

So, wie gewisse rare Signale hindurch verquer geschaltete Verkettungen mich in einem Sekundengeist aus meiner inneren Gleichheitshölle hinausgeleiten können, so sind es leider oft schon bloße Äußerlichkeiten, die mir als unannehmbare den Zugang zu einer Erfahrung verstellen. Die Liste der Dinge in der viel gerühmten (und immer noch zu rühmenden, aber vernünftig kaum mehr zu verarbeitenden) Vielheit der Welt, derer ich mich gerne entledigen würde, wird immer länger. Je älter ich werde, desto stärker wird ein Zug ins Radikale bei mir: Wenn nicht überhaupt der Terror, so sind doch etwas von dessen Explosiv- und Zerreißungskräften auch in mir – und es scheint, auch sie verlieren ihr Stigma! Ich werde unduldsamer, rührt mich das zu Duldende nicht irgends- und anderswie in seinem Eigensinn an – längst bin ich immer weniger bereit den lähmend ihren zu errettenden Gegenstand verpassenden Appellen zum angeblich Besseren zu folgen. (Stattdessen gebe ich mir manchmal wieder Handlungsanweisungen, an die ich mich doch nicht halte. Etwa: Verführ‘ dein Tabu! Oder auch: Beim nächsten Mal langst du zu! Denn der Hunger in mir nach der Welt – nach der diätetisch in mir schon zu lang verdünnten – wird immer größer, wird immer umfassender!) )

Und wieder mal hatte ich also zu wenig nachgedacht.

Ich wusste noch, man solle immer jeglichen Anspruch auf Natürlichkeit bestreiten, weil stets vom am leichtesten zu Behauptenden her – vom Selbstverständlichsten: also von über sich selber oft am wenigsten Aufgeklärten – das hegemoniale Geschlecht produziert wird. Nur: Will die Abweichung nicht ihrerseits Regel sein? Unter Menschen folgt die Forderung nach Anerkennung demselben Willen zur Macht. Die ihr also nicht verwehrt werden darf. Worüber sie sich selber aber auch nicht leichtfertig täuschen sollte: Was die Minderheit zu erleiden sich beklagt, würde sie ihrerseits zufügen.

Und sie tut es oft genug – und vielleicht kaum weniger bedenkenlos. Einmal, im äthiopischen Hochland, habe ich ein blauäugiges Kind gesehen. Für mich war es, nicht nur in der befremdlichen Strahlkraft seines Gesichts, ein kleines Wunder. Doch dort galt es als das Niedrigste – als Aussatz. In anderen, marginalisierteren Stämmen, wird dem menschlich Lieblichsten – dem mutmaßlich weitestgehend unschuldigen Geschlecht – die Klitoris herausgeschnitten. Und in wiederum anderen, längst ihrerseits im Aussterben begriffenen Stämmen, müssen Jungen ein seltenes höheres Tier erlegen, um hindurch ein mimetisch einzuübendes Urdrama ein Mann zu sein. Will sagen: Die Idiotien der kulturellen Unterscheidungen sind ebenfalls endlos, oft genug rührt ihre angebliche Vernunft selbst noch aus Aberglauben oder Barbarei. Und schließlich ist Norm, ist die Frieden haltende Ordnung, selber Gewalt. Damit aber bleibt umso verführerischer die Frage, wie ich denken würde, hätte mein Vater mir als Zwölfjährigen ein Gewehr in den Arm gelegt. Fehlte es mir nicht, wie einem das Lieblichste immer fehlt? HAL, werde ich töten?

Weil ich mich schon während meiner Zeit als Trainee oft langweilte – ohne Herausforderung von außen geraten auch die Heroismen von Arbeit und Karriere und angeblicher Kreativität rasch zur Einpassung in lediglich einen Beruf – hatte ich nicht aufgehört Theorie zu lesen. (Wer aber arbeiten will, gebiert seinen eigenen Vater: Kierkegaard.)

Nur hatte ich, als dieser ganze Gender-Kram immer stärker aufkam, irgendwann gemerkt, dass er eine Art Spiegelkabinett immer verästelter, immer schwieriger zu gewichtender Unterscheidungen ist, aus dem man so rasch nicht wieder hinausfindet – es sei denn, indem man sich neuerlich zu einem Fundamentalisten wandelt: zuletzt des immer verzweifelter immer Richtigeren. Ein Kabinett also wie ein Schieberegister, in dem aber bei mir außerdem dauernd immer noch etwas anderes, schwer Aufzudeckendes mitsprach. So etwas wie Archaismen (oder eben doch: Biologie?). So etwas wie eine Art Urfärbung, oder eben doch ein genuin eigenes Wesen von Verstehen, das durch bloß technische Denkakte nicht zu überkommen war. Da sind, hatte ich irgendwann gedacht, ähnlich komplizierte, dafür persönliche Leidenschaften und Obsessionen vielleicht ziel-, das heißt glücksführender.

Hier, auf der Party, war das Ganze leider auch nur von entsprechend kurzer Dauer: Eine Kopfwendung, ein kurz heller scheinendes Gesicht, jemand nennt einen Namen, der in den Unterregistern verschwindet, und während das Gewese weiter wogt und lärmt, hat einen etwas getroffen und bleibt für immer.

Das Zweite waren dann die Reaktionen, die dieser Zwischen-Mensch bei anderen auslöste.

Die meisten – wie auch M. – reagierten mit Amüsiertheit, die in unterschiedlichen Graden für Verwunderung, Neugier oder Desinteresse stand. Aber wer sich keine Blöße geben will, muss sich panzern, und so wurden ein paar andere Leute sofort unwirsch, aufwiegelnd, verbal offensiv. Solchen aber in ihre Kopfscheuheit hineinzusprechen – in ihren ja gleichfalls ersten Impuls: nur dass man ihn selber nicht teilt -, ist dann ebenso kontraproduktiv. Jedenfalls kam es sofort zu Spannungen.

Andererseits konnte ich mich schon immer leicht mittels der Besonderheit eines Einzelnen gegen komplette Mehrheiten behaupten. Und in einem Anflug der von Jenem her inspirierten, mich trans-missionierenden Souveränität weigerte sich etwas in mir, diese Spannungen – die ich andernfalls, heimlich gesucht, interessiert verfolgt hätte – jetzt in mich aufzunehmen: gegen nicht nur eine indifferente, mich eh langweilende Gesellschaft, sondern vor allem gegen diese neue, gern bei mir bewahrte Spürung in mir. (Und die höhere Nüchternheit der Wirkung von zwei, drei Schlucken eines billigen, aber süffigen portugiesischen Rosés.)

Im Grunde müsste man eine Party (oder eine Vernissage oder eines Verkündigungs-Meetings etc.) jedesmal gleich nach dem besten Moment verlassen: Das trainiert nicht nur den Sinn für Wesentlichkeit, sondern bewahrt einem zuletzt auch den Glauben ans Gemeinschaftliche. Wohl nicht wirklich effeminiert, aber immerhin mit einer gewissen Allüre – und noch hier versucht, es so auszudrücken -, machte ich M. eine kleine Szene: Ich wollte sofort gehen! Und das taten wir auch.

Warum ich mich auch, trotz der gedanklichen Hochrüstung des Abends so gut an ihn erinnere und seine weitere Folklore weglassen konnte, war, dass es für mich doch noch eine Art Ergebnis gab, auch wenn es zum Gesagten hier noch einmal paradox blieb: Erstens ist Extremismus selber vor allem eine Form – und zweitens sind von Menschen einmal gefundene Formen anscheinend doch niemals zu erschöpfen.

Ich weiß noch, im Wühlen nach ihrem falschen Pelz unter dem Haufen der Mäntel auf dem Bett spürte ich dann trotzdem so etwas wie eine kurze Erhitzung. Und als wir, mal wieder ohne Geld fürs Taxi, in die eisige Dezembernacht hinaustraten, wirkte die Kälte auf mich sofort euphorisierend und ich fühlte mich nachträglich fast ein bisschen glücklich und noch aufgewühlt. Um mein bisschen Wärmeschatten abzukriegen, wollte sich M. bei mir unterhaken, aber was mich sonst gefreut hätte, störte mich nun. Sogar von ihr, der Einzigen, mit der ich in jener Zeit den Zusammenhalt nie ganz aufgab, wollte ich jetzt lieber ein bisschen Abstand.

(Auszug)

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Der Ort, in dem The Prisoner gedreht wurde, eine hellsichtige Fernsehserie um Überwachung, Kontrolle und Manipulation aus den 1960er Jahren (in D seinerzeit gelaufen [und vor ein paar Jahren von Arte neu ausgestrahlt] unter dem Namen Nummer 6) heißt Portmeirion – und er liegt in Snowdonia, einer nördlichen Küstenregion in Wales.

Schaue ich mir heute Bilder von Portmeirion an, kommt es mir vor wie das Neuschwanstein Englands.

Es wurde schließlich, um es finanziell erhalten zu können, von dem, der es erdachte – einem vermögenden, eigentlich lokal verwurzelten Architektur-Dilettanten -, bald zur Hotelanlage ausgebaut und erweitert, nach mediterranem Vorbild. Ganze Gebäude (und immer wieder auch zu bewahrende Teile von anderen Nutz- und Wohngebäuden) wurden von anderswo abtragen und in dieses bricolagierte Lego-Land transferiert – ein bis in seine Bauelemente dystopischer Ort, eine, obwohl andauernd das Authentische inszenierend, umso entschiedenere Fassade. Im Gegensatz zu Metropolis oder Alphaville aber als ausdrückliche Idylle.

Und dieser Eindruck einer Idylle, einer bestimmten Art anfangs sich ergeben habenden, später sozusagen systemisch gewordenen Künstlichkeit, kommt mir auch jedes mal, wenn ich etwa im ZDF die Fernsehnachrichten anschaue – als würde ich unter dem Vorwand der Information, also eigentlich einer gelinden Formatierung, leicht narkotisiert.

An einem Freitagabend, vor einem weiteren Wochenende ohne Pläne, hat ein Kollege mich einmal ernsthaft gefragt, ob ich mit ihm ins Tokyo Disney fahre. Obwohl auch ich mich damals ähnlich wie er nach Wochen noch nicht akklimatisiert hatte (und vielleicht überhaupt nirgends so fremd gefühlt habe wie in Japan), verstehe ich erst heute, dass er auf eine bestimmte Weise verzweifelt gewesen sein muss.

Leider habe ich erst später erfahren, dass auch dieser Ort, die kleine Stadt Urayasu (ursprünglich ein Fischerdorf), eine interessante Dystopie gewesen wäre mit nämlich nun einer alten Stadt und einer neuen Stadt, mit einer statt japanischen eher amerikanischen Bauweise – sie wäre womöglich auch ohne Micky Maus eine interessante, eine die der englischen New Towns aus den 1960ern vorausgehende Erfahrung gewesen.

Es wird erzählt, es hätte das Anheimelnde von Portmeirion – also etwa schiefe Fachwerkwände und ein Seerosenteich – entsprechende Effekte auf die Besucher (oder es lässt sie zumindest darüber sprechen). Der Bekannte eines Freundes aber hat, als bekennender Sixties-Freund und Fan jener Fernsehserie, seine Hochzeitsreise nach Portmeirion gemacht, und er erzählt, es wäre ihm schon nach wenigen Tagen dort seltsamer vorgekommen als in Las Vegas.

Ich selber habe mich in Las Vegas, trotz gewisser, sozusagen offensiv gesuchter Begeisterungen für die in eine interessante Pseudo-Erhabenheit getriebenen Geschmacklosigkeiten dort, eher an Kirmes und Zirkus erinnert gefühlt, an (zwar kreischende) Ausgelassenheiten für Große, an etwas eher Kleinteiliges aber an Freuden – ohne ein Bedauern fährt man dort nicht weg. Zirkus aber hatte ich als Kind nie gemocht, weil ich immer zu sehr die Traurigkeit der Tiere gespürt waren; Zirkus – das war das immer schon Gebändigte.

Was mich auf den Clown von Northampton bringt, auf jenes subtile, gerade so gern kolportierte und doch nirgends recht festzumachende Moment von Unsicherheit und Bedrohung (wenn es schon sonst nichts Wichtigeres in der Welt gibt: Nicht nur Provinzblätter schreiben darüber). Und es kommt mir fast ein Geruchsreiz wie von Sägemehl. Northampton aber – während meiner Zeit in Milton Keynes sind wir wegen Stuarts Schwester ein paar mal hingefahren – ist umso mehr dieses Nirgendwo, ein Ort sicher auch auf irgendeiner Landkarte, der jedoch schon zu einem flüchtigen Komplexreiz geworden ist, zu etwas Entbundenem.

Abgewandelt könnte man vielleicht sagen: Was in Portmeirion passiert, bleibt in Portmeirion. Trotz meiner Jahre in England – und den Vertrautheiten dort, den Gefühlen von einer Art Heimat, die schon durch etliche Momente aus der Pop-Musik gegeben sind (etwa Death of a clown) -, trotz außerdem durchaus handfester Erfahrungen, hat heute allein der Gedanke an England gelinde zwiespältige, ich bin versucht zu sagen: dystopische Effekte auf mich. Und längst sehnt sich ein sozusagen von daher schon gelösterer Teil in mir öfter dahin zurück.

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Wenn Kohlen geliefert wurden, im Frühherbst, hatte hinterher oft noch für Tage das schwarze Staubfeld vor dem Kellerfenster gelegen und ein etwas bitterer Geruch in der nun kühleren Luft zu unserem Taschenlampenlicht.

Und sehr wohl war mir aufgefallen, wie die Rußköpfe aus der Helle ihrer wie extra aufgerissenen Augen meine Mutter betrachtet hatten, die mit ihrem großen Portemonnaie für die Familienausgaben dabeistand und die Säcke zählte und sich ihre nackten, noch vom Italienurlaub gebräunten Beine begaffen ließ und mit den Männern scherzte, als gehörte das alles dazu.

Eines Tages hatten wir in dem Kohlenstaub die unübersehbaren, wenn vielleicht auch nur mit einem Ast da grob hinein gekratzten Umrisse eines Menschen gefunden – als hätte er sich die Nacht vom Dach gestürzt und wäre dann am Morgen einfach aufgestanden und weggegangen. Auch die Erwachsenen hatten in ungläubigem oder empörtem Ton ihre Vermutungen darüber geäußert, doch hatte man nie herausgefunden, wer aus dem Haus sich einen solchen Scherz erlaubt hätte.

Als ich viele Jahre später – an einer gerade gesperrten Kreuzung, an der sich die Gaffer stauten – auf nacktem Asphalt mal wieder eine solche Umrisszeichnung sah, musste ich sie prompt für unernst halten und die ganze Szene samt der sie gegen uns Vordringende sichernden Polizisten für fast ein bisschen frivol.

Und im Abwenden, das weiß ich noch, war mir dann ein Mädchen an der Hand seiner Mutter aufgefallen, eines, das den Hals gar nicht genug recken konnte nach dem Schlimmeren. Ein Mädchen in Kniestrümpfen und einer Herzchenschürze, alles, dem sie für ihre Körpergröße eigentlich schon hätte entwachsen sein sollen. Ein Mädchen, das aber trotzdem irgendwie simpel lächelnd dabeistand … und dann plötzlich doch auch irgendwie bangäugig den Kopf abwandte und sich umsah – nach mir. Ich verstand die Widersprüchlichkeit meiner Eindrücke nicht.

Und immer noch nicht, als das Mädchen mich nun anlächelte, aber zage, so, wie einen Kinder anlächeln, die, mit zwei Händen auf ein Karussellpferd gesetzt, einen stumm bitten, sie aus einer unerwünschten Verlegenheit oder Bedrängnis gleich wieder zu entheben.

Und dann brauchte es noch einen letzten Moment, bis mir aufging, dass das Kind anscheinend geistig zurückgeblieben war. Und die gesamte Szene eine so gewöhnliche wie eine auf bestimmte Weise überhaupt nicht zufällige war, eine aus dieser gerade im Alltag sich manchmal überraschend auftuenden Übergangszonen von Durchlässigkeit gegen den Alptraum. 


(Aus „Aftermath“)

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Beim Sortieren des über die Jahre so angefallenen Materials (Fundgedichte, Fotos, Objekte) für eine kleine Online-Publikation Die poetische Stadt, die ich gerade zusammenstelle – ich werde sie irgendwann mal hier einstellen -, stoße ich gleich wieder auf mein Lieblingsgedicht.

Frankfurt

Frankfurt
beim Walter
als er den Unfall
gehabt hat und
er war da lange
im Krankenhaus
gelegen, da war
ich lange in Frankfurt.

Fundgedichte Frankfurt

Diese Zeilen wurden von einer alten Frau verfasst, deren Fotonachlass ich einmal kaufte, und es erinnert mich jedes Mal wieder an die Qualitäten etwa eines Ernst Herbecks oder an die sich manchmal beim [automatischen] Übersetzen ergebende Google-Poetry. Qualitäten jedenfalls, die (in der Konvention ja auch des Zusammenhangs des Genialischen mit dem Verrückten so mancher unserer Überdichter, etwa Hölderlin) genuin zur sprachlichen Moderne von Écriture automatique oder Gertrude Stein zu gehören scheinen und nicht so eine Weiteres hergestellt werden können (oder eben nur mit Inspiration und viel Arbeit): Wie bei jedem sein Gelingen nur streifendes Gedicht merkt man jede falsche Stelle sofort.

(Die ganzen Links auf Namen und Begriffe übrigens, weil ich gesprächsweise immer wieder merke, dass ich – zumal mit Jüngeren – über kaum noch einen gemeinsamen Hintergrund mit ihnen verfüge: Die wissen oft von meinen Sachen nix. Die wissen dafür vielleicht was anderes, aber ich, ich werde damit zunehmend alleine alt!)

Diese Frau jedenfalls muss – möglicherweise schon dement – die Angewohnheit angenommen haben, immer wieder ihre Schuhkartons mit Fotos durchzusehen, und, damit sie es nicht vergesse, sich ihr Leben zu erzählen, indem sie immer wieder den Namen, den Verwandtschaftsgrad des Abgebildeten, den Ort, an dem das Foto gemacht wurde auf dessen Rückseite schrieb.

Es gibt Bilder, auf denen sie in ihrer Küchenschürze im Garten steht und man sieht am Rand des Grundstücks das Schild mit dem Straßennamen. Da denke ich gleich, jemand müsse sie mit Bedacht so fotographiert haben. Trotzdem steht auf der Rückseite dann oft dieser Straßennamen noch einmal: Marburger Straße. Oft steht dort aber auch nur mehrere Male: Dieses Foto habe ich gemacht. Das Foto habe ich gemacht. In verschiedenen Kugelschreiberfarben. Und manchmal noch: Es war immer schön. Und eben in der Schlichtheit des Vergewisserungsverlangens liegt auf einmal das Drama, spürt man etwas von Alter und Lebensrückzug. Etwas vom nachlassenden Licht. Von Krapps letztem Band.

Meistens, wenn ich das Besondere einer solchen Foto-Sammlung erfasst habe, sein punctum, trenne ich mich auch wieder davon. Man könnte mit einigem Recht sagen, ich plünderte die Erinnerung der anderen aus.

Man könnte es aber auch so sehen, dass ich im Abfall der anderen, den niemand mehr will – Nachlass wäre ein schönes Wort, meist landen diese Sache aber tatsächlich auf dem Müll -, die wenigen Perlen zu finden und sie zu bewahren suche. Ich bin da selber noch nicht entschieden. Man könnte sagen, mit den Jahren der Beschäftigung mit alten Fotos, mit all diesem „alten Licht“ (Tucholsky), bekommt das immer öfter seine eigene Vergangenheitsschwere, die sich mir manchmal auch auf die Seele legt.

Schlägt sie sich nicht irgendwo medial nieder, taugt die Erinnerung außer für einen selber eigentlich für nichts. Kommen mir sonst diese ganzen Ideen von Existenz-Upload für ein zumindest zerebral verlängertes Leben auch ziemlich albern vor, finde ich doch hin und wieder den Gedanken anziehend, ich könnte einmal mein kleines Lebensfassungsvermögen in die Wolke stellen und dort ab und zu von flüchtigen Geistern gefunden und begrüßt werden. Aber ewiges Seelenleben erlangt man auf solche Weise wohl nicht.

Immerhin kam ich durch diese Frau auch auf die Idee für ein Album ausschließlich mit den Rückseiten der Bilder. Ich habe ja, vielleicht, noch ein paar Jahrzehnte Zeit, aber, kann sein, ich weiß mir manchmal eben auch schon nicht mehr besser zu helfen.

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(Aus „Altes Licht“ – eine Sammlung älterer Blog-Texte zum Thema)
[Die man irgendwann mal tatsächlich mal hier zum runterladen finden wird…]
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